DIE RECHTE HAND (4) – ROLLS (Heft 01/'96)

Das Salz in der Suppe einer Blues-Interpretation oder -Improvisation sind vor allem die Bestandteile, die sich verbal oder in Noten nur sehr unvollkommen beschreiben lassen. Die Beschäftigung mit Improvisationstechniken wäre aber ohne den Versuch, wenigstens die wichtigsten Blues-spezifischen Effekte einmal näher unter die Lupe zu nehmen, ausgesprochen unvollständig - Grund genug, dies an dieser Stelle zu tun, zusätzlich motiviert durch die Erfahrung, dass auch handwerklich hervorragend ausgebildete Pianisten, ausgestattet mit allen möglichen Techniken und Kenntnissen zum Thema Improvisation, damit zuweilen recht unbeholfen umgehen.

Abgesehen von rhythmischen Aspekten wie „Drive“, dynamische Intensität etc., die sich schon mal gar nicht mit den Verständigungsmitteln der traditionellen Musiksprache vermitteln lassen, kann man wenigstens zwei wichtige spieltechnische Besonderheiten im Notenbild andeuten. Die sogenannten „dirty notes“, die hauptsächlich in Form von SIDE SLIPPING (Abrutschen von einer schwarzen auf eine weiße Taste) auftreten, werden in Verbindung mit dem Fingersatz als Vorschlagnoten erkennbar. Der besseren Erkennbarkeit zuliebe habe ich dafür noch ein zusätzliches Zeichen (>>>) in meine „persönliche“ Notenschrift eingeführt.

Schwieriger im Notenbild präzise zu erfassen sind die sogenannten ROLLS, bei denen eine bestimmte Tonfolge schnell hintereinander „abgerollt“ wird. Dabei kann man zwar noch die zugehörigen Töne darstellen, die Rhythmik allerdings bedarf einer gesonderten Erklärung. Übrigens hätte ich auch sicherlich größere Schwierigkeiten gehabt, die Aussagen über die genaue Reihenfolge der Töne mit einer gewissen Sicherheit zu treffen, hätte ich diese nicht in einen Sequenzer gespielt und anschließend im Editor betrachtet.

Spieltechnisch gesehen stellen die ROLLS eigentlich kein Problem dar. Die Hand befindet sich in einer Position, in der jeder der 5 Finger auf einer Taste liegt, deren Ton dann ggf. Bestandteil dieser schnellen Tonfolge wird. In der Regel handelt es sich dabei um Töne, die zum Teil vorher schon gespielt wurden, die aber auf jeden Fall bereits „in der Hand liegen“ und die als diatonische oder pentatonische Tonfolgen zum nächsten Ziel-Ton oder -Intervall hinführen. Dazu, dass solche Tonfolgen mit einer gewissen Selbstverständlichkeit im Fünf-Finger-Raum verfügbar sind, können Sequenz-Übungen beitragen, wie sie in den letzten Workshops zu diesem Thema vorgestellt wurden.

Eine nicht unwesentliche Rolle im Verständnis gegenüber den ROLLS spielt eine rhythmisch und tonal klar definierte Grundidee, die so etwas wie das gedankliche Gerüst für eine Erweiterung oder Abwandlung dessen darstellt und die ich hier als „Basis-Lick“ bezeichnen möchte. Selbst wenn es diese ursprünglichen Ideen in dieser konkreten Form oft gar nicht gibt, kann man sie doch zunächst einmal konstruieren, um damit ein besseres Bewusstsein für den rhythmischen Ablauf des ROLLS zu bekommen. Das funktioniert dann etwa so:

Die Noten des Basis-Licks, die auf dessen erster Zählzeit liegen (im Notenbeispiel 1 ist das die '3'), existieren zwar in der Vorstellung, werden beim Spielen aber sozusagen verschluckt. Stattdessen werden die ROLL-Töne „hingeschludert“, deren letzter Ton auch nur in der Vorstellung rhythmisch mit dem letzten Ton des Basis-Licks zusammenfällt, damit – und das ist wichtig – der erste Ton der darauffolgenden Phrase wieder genau auf dem Beat liegt.

Diese Herangehensweise kann (besonders bei anfänglicher Unsicherheit) eine Hilfestellung dafür sein, die ROLLS trotz ihrer nicht zu definierenden Notenwerte und der Flexibilität in ihrer Ausführung mit der notwendigen Lockerheit „in den Groove zu bekommen“, ohne dass dabei auch nur der Hauch einer rhythmischen Schwankung entsteht. Das wird umso verständlicher, wenn man sich noch die motorischen Abhängigkeiten zur Begleitung der linken Hand bewusst macht. – MIDI-File

In den Notenbeispielen 1 und 2 lässt sich das Verhältnis zwischen Basis-Lick und dessen Ausführung nachvollziehen, indem beide Varianten des gleichen Motivs dargestellt sind. Zu hören ist im Ergebnis das, was in Notenbeispiel 2 zu sehen ist.

Notenbeispiel 3 stellt dann zu einem weiteren Vergleich noch den "gedanklichen Ursprung" des ROLLS im vorletzten Takt der Boogie-Improvisation dar, die dann der Inhalt von Notenbeispiel 4 ist. – MIDI-File

Am Rande sei hier noch einmal auf zwei andere spieltechnische Erscheinungen hingewiesen, die im vorigen Workshop als Übungs-Pattern dargestellt waren und die hier quasi ihre praktische Anwendung finden:

  1. In den ersten Takten läuft in der rechten Hand eine Figur, die sich im Zyklus von 8 Triolen-Achteln wiederholt und damit in 2 Takte genau dreimal hinein passt (im vorigen Beitrag Notenbeispiel 4).
  2. Im 6. und 7. Takt der Blues-Strophe wird SIDE SLIPPING in einer rhythmisch definierten Form betrieben (im vorigen Beitrag Notenbeispiel 6).

Die hier gezeigten Beispiele sind übrigens dem Boogie „SLIPPERY KEYS“ entnommen, der in vollem Umfang in dem schon öfter zitierten Heft BLUES/BOOGIE/GOSPEL der BASICS-PRAXIS-PLAY-Reihe (AMA-Verlag) abgebildet und auf der beiliegenden CD zu hören ist.

 

© 1996 by Wolfgang Fiedler