PARTIALTÖNE

Im Mittelpunkt dieses Beitrags steht die Partialtonreihe. In einer Grafik  wird die Partialtonreihe (oder Naturtonreihe, Obertonreihe) bis zum 21. Partialton (20. Oberton) dargestellt. Weiterhin wird im Beitrag die Beziehung zwischen Partialtönen, harmonischen Oberwellen und der FM-Synthese erörtert, und am Beispiel der afrikanischen GOGO-Skala wird der direkte Einfluss der Partialtonreihe auf das Tonmaterial menschlicher Musikkultur erkennbar.

Vom Klang der Erde

So lautet eine Kapitelüberschrift in einem Buch, das sich ausgiebig mit zyklischen Vorgängen in der Natur und deren Beziehungen zu unseren Wahrnehmungen befasst (siehe [1] in den BUCHTIPPS). Darin geht es um eine sehr hohe Bandbreite von Frequenzen im weitesten Sinne, vom Kreisen der Erde um die Sonne (1/Jahr) bis zu den Wellenlängen des Lichts und um teilweise verblüffende mathematische Beziehungen zu Frequenzen und Intervallen in der Musik.
Die Partialtonreihe
Auf der Suche nach möglichen Quellen für unser Verständnis von Tönen und Tonfolgen genügt es schon, sich im hörbaren Bereich auf  ein einfaches Prinzip der Schwingungsteilung zu beschränken. Durch die Multiplikation einer Frequenz mit ganzen Zahlen entstehen Töne mit entsprechend vielfacher Frequenz. Deren Aneinanderreihung wird als Partialtonreihe bezeichnet (gleichbedeutende Begriffe - siehe Glossar).
In der Abbildung sehen Sie diese Skala bis zum 21. Partialton, ausgehend vom Ton C als Grundton, mit den ungefähren Frequenz-Abweichungen der Teiltöne (in Cent) zu den wohltemperierten Intervallen.. Die dort dargestellten Töne (und noch ein paar weitere) können Sie sich hier anhören. Wenn Sie die gleichen Töne dazu auf einem Keyboard mitspielen, können Sie die weiter unten beschriebenen Differenzen zwischen den Partialtönen und den Vergleichs-Intervallen mit wohltemperierter Stimmung wahrnehmen.

Partialtonreihe auf dem Ton C

Die Nummerierung der Partialtöne unter der X-Achse entspricht gleichzeitig den Faktoren, mit denen die Frequenz des Pedaltons multipliziert wird.  Die Partialtöne (= Teiltöne) entstehen praktisch durch die Teilung  einer Welle in gleiche Teile, z. B. durch Flageoletts (siehe Glossar), oder durch verschiedene Druckverhältnisse in der Luftsäule in einem Hohlkörper. Jeder kennt die Möglichkeit, durch das Blasen über die Öffnung einer Flasche hinweg Töne zu erzeugen, die je nach Geschwindigkeit des Luftstroms wechseln, und zwar entsprechend der Partialtonreihe. Man kann davon ausgehen, dass der letztgenannten Form der Wahrnehmung und Erzeugung von Tönen in der Urgeschichte der Musik eine zentrale Rolle zukommt. Ein Indiz dafür ist der hohe Anteil von Flöten, Pfeifen, Hörnern und anderen Blasinstrumenten im Spektrum der historischen Klangerzeuger aller Musikkulturen.

Natürliche und künstliche Intervalle

Unser Interesse gilt nun dem Vergleich der Partialtonreihe mit dem, was wir als Tonmaterial in der Musik verwenden. Hier ergeben sich als Folge der ”musikalischen Evolution” gewisse Abweichungen. Schon die alten Griechen haben sich mit den Differenzen zwischen ”musikalisch geeigneten” und den ”natürlichen” Intervallen der Partialtonreihe herumgeschlagen, welche im 17. Jahrhundert schließlich zur Einführung der wohltemperierten Stimmung geführt haben. Details dazu und zu den Intervallen des Zwölftonsystems werden im nächsten Beitrag  zu finden sein. In [2] unter BUCHTIPPS finden Sie ein universelles Nachschlagewerk zu diesen und andere Grundbegriffen. Hier soll zunächst nur erläutert werden, was der Abbildung darüber zu entnehmen ist:
Mit der wohltemperierten Stimmung im europäischen Zwölftonsystem sind die Intervalle der Partialtonreihe künstlich so ”verstimmt” worden, dass sie zu verschiedenen Grundtönen gleichermaßen ”passen”. Die wohltemperierte Stimmung ist nunmehr Maßstab jeglicher musikalisch orientierten Verständigung über Töne und Intervalle geworden. Deswegen zäume ich eigentlich das Pferd vom Schwanz auf, indem ich die Vergleichsintervalle unseres Zwölftonsystems und die Abweichung der Partialtöne davon (auf der Y-Achse in Cent) so darstelle, wie sie ein wohltemperiert geeichtes Stimmgerät wahrnehmen würde. Würde man die Partialtonreihe als Ursprung betrachten, von der die wohltemperierte Stimmung abweicht, müsste es natürlich umgekehrt sein.
Vernachlässigt man diese Abweichungen mal, dann lassen sich bis zum 16. Partialton, also innerhalb der ersten 4 Oktaven, alle Intervalle und damit alle melodiebildenden Tonsprünge des Zwölftonsystems finden. Dazu muss man die Abstände der Partialtöne sowohl zum Grundton als auch untereinander betrachten. Bemerkenswert ist dabei, dass der 11. Partialton, die übermäßige Quarte (oder auch ”Tritonus”) so stark von der wohltemperierten Stimmung abweicht, dass man ihn als die um einen Viertelton zu hoch geratene (reine) Quarte bezeichnen könnte. In der Relation zur nächsten Oktave (dem 16. Partialton) ist das Verhältnis umgekehrt – also ein um einen Viertelton zu hoher Tritonus. Bei der Frage nach dem Ursprung der Vierteltöne in der orientalischen Musik braucht man also noch nicht einmal die Töne oberhalb des 20. Partialtons zu bemühen.

Die GOGO-Skala

Die GOGO-Skala verkörpert das melodische Material in der Musik der WAGOGO, einem Stamm in Zentral-Tansania. Das gleiche oder ein sehr ähnliches Tonmaterial lässt sich aber auch in territorial ganz unterschiedlich angesiedelten Musikformen Afrikas finden, so dass es hier mal erlaubt sein soll, diese Tonfolge pauschal als etwas Typisches für die afrikanische Musik zu bezeichnen (siehe [3] unter BUCHTIPPS).
Bemerkenswert an der GOGO-Skala ist die offensichtliche und sehr direkte  Orientierung an der Partialtonreihe. Sie besteht nämlich im Wesentlichen aus dem 4. bis 8. Partialton, der 9. und 10. kann als eine Art ”Option” angesehen werden.

Die GOGO-Skala

In der Abbildung der GOGO-Skala (vgl. auch das Schema der Partialtonreihe) ist auf der rechten Seite die typische Zweistimmigkeit gezeigt, die im Zusammenklang von Singstimme(n) und ggf. Instrumenten wie ”ilimba” (ein Lamellophon) oder ”izese” (einer 2-saitigen Fidel) entsteht. Die römischen Ziffern unter den letzten drei Intervallen ist im weitesten Sinne eine Art ”Kadenz”. Im Zusammenhang mit den Quellen des Blues und der Beziehung zwischen Melodik und Funktionsharmonik wird dieses Tonmaterial noch öfter zitiert werden.

Harmonische Oberwellen
Auch innerhalb von Klängen, die eigentlich als einzelne Töne verstanden werden, tritt häufig eine Mischung aus Frequenzen nach dem Muster der Obertonreihe auf. Wenn man so will, ist ein einzelner Ton in vielen Fällen gleichzeitig ein Akkord aus Grundton und weiteren Partialtönen, in diesem Zusammenhang als ”harmonische Oberwellen” bezeichnet. Durch Materialeigenschaften oder die Art, wie der Körper zum Schwingen gebracht wird, ergeben sich Teiltöne nach dem eingangs beschriebenen Muster. Dies kann dazu führen, dass sich der Komplex aus Oberwellen akustisch deutlicher durchsetzt, als der eigentliche Grundton – ein typisches Merkmal beispielsweise von metallischen Klangkörpern (z. B. Röhrenglocken). Gleichzeitig treten die Oberwellen meist mit zeitlich unterschiedlicher Intensität auf, also mit verschiedenen Hüllkurven.
FM-Synthese
Je klarer die Frequenzverhältnisse in den Oberwellen eines ”realen” Klangkörpers sind, desto besser lässt sich dessen Sound synthetisch mit Hilfe der FM-Synthese nachbilden, die auf dem Prinzip der gegenseitigen Modulation von Partialtönen beruht. Das Klangbeispiel zur Partialtonreihe habe ich übrigens mit Hilfe eines FM-Synthesizers erzeugt, durch einfaches Durchschalten des ”Frequency Coarse”-Parameters (ganzzahliger Frequenz-Multiplikator) eines Oszillators.
Die Grenzen der FM-Synthese werden dadurch gesetzt, dass es vielfach schwer fällt, aus der  Komplexität eines Klangs die optimalen Parameter für die Oszillatoren treffsicher abzuleiten, und dass sich noch dazu die Klänge aus der Natur nur recht selten Fällen an dieses einfache Muster halten.

GLOSSAR

Cent - Maßeinheit für die Feinverstimmung von Tönen. Ein Halbtonschritt im Zwölftonsystem entspricht 100 Cent.

Dissonanz – ”Missklang”, oder besser: tonale Reibung, die sich verstärkt, je komplexer die mathematische Beziehungen zwischen den Frequenzen gleichzeitig erklingender Töne wird.

Flageolett – Durch Auflegen eines Fingers auf die Saite eines Zupf- oder Streichinstruments an einem Punkt, der genau auf der Hälfte, einem Drittel, Viertel, Fünftel usw. liegt, entfaltet die Saite ihre Schwingungen um diesen Punkt herum. Je nach Berührungspunkt schwingt die Saite dann in ihren Teilabschnitten in einer ganzzahlig vielfachen Frequenz des Grundtons.

FM-Synthese – Klangsynthese durch Frequenzmodulation. Dabei wird ein Sinus-Oszillator mit einer Trägerfrequenz (”Carrier”) durch einen oder mehrere andere Sinus-Oszillatoren (”Modulator”) überlagert bzw. moduliert. Die auf diesem Wege erzeugten und durch Volumen-Hüllkurven zeitlich variierbaren harmonischen Oberwellen stellen eine einfache digitale Alternative zur ”klassisch analogen” (auf verschiedenen Wellenformen und Filtern beruhendenden) Klangsynthese dar.

Hüllkurve – zeitlicher Verlauf der Lautstärke (Intensität, Amplitude) einer Schwingung.

Intervall – Zwischenraum, im musikalischen Sinne der Abstand zwischen zwei Tönen.

Konsonanz – ”Mitklang” oder ”harmonischer Zusammenklang”, das Gegenteil von Dissonanz (mehr dazu im nächsten Beitrag).

Naturtonreihe – gleichbedeutend mit Partialtonreihe.

Obertonreihe – gleichbedeutend mit der Partialtonreihe, allerdings zählt hier der 2. Partialton als 1. Oberton. Der Pedalton wird, im Gegensatz zur Partialtonreihe, nicht mitgezählt (siehe auch  Abbildung). Im Englischen wird OVERTONE allerdings meist mit Naturton bzw. Partialton gleichgesetzt und dementsprechend nummeriert, da PARTIAL TONE als Begriff kaum gebräuchlich ist.

Oktave – Intervall, das durch Verdopplung einer Frequenz entsteht.

Partialtonreihe – oder Teiltonreihe. Der Begriff entspringt der Teilung eines schwingenden Körpers, wodurch ein ganzzahliges Vielfaches der Grundfrequenz entsteht (vgl. Flageolett).

Tritonus – abgeleitet von ”3 Töne”, Intervall, das durch drei aufeinanderfolgende Ganztonschritte entsteht.

wohltemperiert – Anpassung der Tonfrequenzen im europäischen Tonsystem, die zu 12 gleichen Halbtonschritten innerhalb einer Oktave führt.

BUCHTIPPS
[1] – DIE KOSMISCHE OKTAVE, Hans Cousto, Synthesis Verlag Siegmar Gerken, ISBN 3-922026-24-9.

[2] – DIE NEUE HARMONIELEHRE, Frank Haunschild, AMA-Verlag, ISBN 3-927190-00-4 (Band 1).

[3] – MUSIKGESCHICHTE IN BILDERN, mehrere Bände, Band 1: Musikethnologie / Lieferung 10, Ostafrika, Gerhard Kubik. Diese Buchreihe ist Anfang der 80er Jahre in der DDR im Verlag DEUTSCHER VERLAG FÜR MUSIK LEIPZIG erschienen, Bestellnummer 318 211 9.

 

© 2001 by Wolfgang Fiedler