BLUES GOES JAZZ – INTRO (Heft '96/02)

...oder umgekehrt? Genau lässt sich das wohl nicht sagen, und intensive Wechselwirkungen mit dem Blues sind keineswegs nur beim Jazz, sondern bei allen afro-amerikanisch inspirierten Musikrichtungen festzustellen. Für unser Thema sind aber in erster Linie die Auswirkungen dessen interessant, die man auch einseitig als spezielle Spielarten des Blues ansehen kann. So sind also auch vom Jazz (insbesondere von den verschiedenen Formen des Bebop) einige Einflüsse zu verzeichnen, von denen zumindest drei wichtige Merkmale eine gesonderte Betrachtung rechtfertigen:

  • Das 12-taktige Bluesschema wird auf unterschiedlichste Weise erweitert. Zwar bleibt der grundsätzliche Spannungsbogen erhalten, aber besonders in den letzten 6 Takten werden durch Einfügen von Zwischendominanten, Substituten (= Ersatz-Akkorde) etc. die akkordischen Abläufe "verfeinert".
  • Im Gegensatz zu urwüchsigeren Blues-Stilen wird besonders im moderneren Jazz mehr Wert auf Sparsamkeit und Spannung durch effektiven Gebrauch der Mittel gelegt. Hier spielt ein Pianist z.B. statt durchgehender Grooves mit der linken Hand einzelne Akkorde, für die sich der Begriff LEFT-HAND-VOICINGS durchgesetzt hat. Da er davon ausgeht, dass die Grundtöne vom Bassisten ausreichend bedient werden, sind diese in den Voicings nur dann enthalten, wenn der gewünschte Sound es erfordert. Ansonsten setzen sie sich vor allem aus den für die Charakteristik des Akkordes wichtigen Tönen wie Terz, Septime und anderen optionalen Erweiterungen zusammen.
  • In der Improvisations-Melodik wird, analog zur harmonischen Erweiterung des Bluesschemas, auch ein größeres Spektrum an Skalen und Licks verwendet. In Abhängigkeit vom Stil und von der Rollenverteilung innerhalb der Band kann dies sehr unterschiedlich ausfallen. Maßgebend ist auch hier das Spannungsverhältnis im Zusammenspiel, das oft vom gleichzeitigen Nebeneinander von ursprünglichen und von verfremdeten Elementen lebt.

Eine Beschäftigung mit diesen drei Aspekten funktioniert am besten anhand praktischer Beispiele, in denen ohne thematische Abgrenzung auch bestimmte Abhängigkeiten untereinander nachvollziehbar werden. Dazu müssen aber, zumindest der Vollständigkeit halber, zunächst ein paar Begriffe und theoretische Grundlagen geklärt sein.

Erweiterungen des Bluesschemas  

Die Vielfalt der Möglichkeiten, das Bluesschema zu erweitern und abzuwandeln, ist so groß, dass es an dieser Stelle zunächst nur um prinzipielle Verfahrensweisen gehen soll. Einen genaueren Überblick, der dann u.a. auch die unterschiedlichen Moll-Blues-Varianten beinhalten wird, werden wir uns zu einem späteren Zeitpunkt noch verschaffen.

Die Zentraltonart aller folgenden Notenbeispiele ist hier wieder einmal C-Dur. Die römischen Zahlen in den zusätzlichen Bezeichnungen (s. auch Zeichenerklärung) beziehen sich auf die Tonstufen in der Tonleiter (mixolydisch, also mit kleiner Septime) und beschreiben damit die Akkordstruktur Tonart-unabhängig.

Notenbeispiel 1 zeigt zum Vergleich mit den weiteren Beispielen die wahrscheinlich gängigste Form der einfachen Blues-Strophe. Die Wechsel zu den in Klammern gesetzten Akkorden sind als optional zu betrachten und können auch innerhalb einer sehr einfachen Form zeitweilig vorkommen.

 Notenbeispiel 2 zeigt, beginnend mit der II-V-I-Progression, verschiedene Varianten von Verkettungen von Subdominant-, Dominant- und Tonika-Funktionen, wie sie für den Jazz typisch sind. Hier ist zu beachten, dass sich die römischen Zahlen in der Überschrift zu jedem Beispiel nicht auf den Grundton c beziehen, sondern die Funktionen beschreiben, die die Akkorde relativ zueinander haben. Dafür ein Beispiel: In der II-V-V-V-I-Progression ist der erste Em7-Akkord die II in einer II-V-I-Kadenz, deren Tonika D oder Dm wäre. Diese „temporäre“ Tonika ist aber gleichzeitig die II in der Weiterführung der Verkettung zur letztendlichen „zentralen“ Tonika C. In der V-V-V-V-I-Progression ist also jede folgende Dominante gleichzeitig im Verhältnis zur vorherigen eine Tonika.
In der Zeichenerklärung wird die Mehrdeutigkeit harmonischer Funktionen in solchen Verkettungen ebenfalls angedeutet. Der Akkord IIIm7 fungiert hier im erweiterten Bluesschema als II (also als Subdominante) in einer „temporären“ Kadenz, deren Tonika (Dm) eigentlich die II im Verhältnis zur Zentraltonart ist. Derartige harmonische Verbindungen entsprechen gegenüber dem einfachen Bluesschema viel mehr der europäisch geprägten Funktionsharmonik und können in Verbindung mit der einfachen Blues-Melodik für viel Spannung sorgen.    

Das Tritonus-Substitut

Hier handelt es sich um die am häufigsten verwendete Form eines Ersatz-Akkordes, meistens für eine Dominant-Funktion innerhalb einer Progression. Wenn man den Bass, statt die Sprünge der Grundtöne in der II-V-I-Kadenz mitzumachen, von der II chromatisch abwärts bewegt, erklingt bei der V ein Basston im Abstand einer verminderten Quinte oder übermäßigen Quarte (= Tritonus) zum Grundton der V (z.B. der Ton 'des' unter G7). Der ursprünglich Grundton erscheint dann ggf. als #11-Erweiterung.

Notenbeispiel 3 zeigt eine Möglichkeit dafür, wie unter Einbeziehung der Tritonus-Substitute ähnliche Progressionen wie im Notenbeispiel 2 im Bluesschema als Erweiterungen eingesetzt werden können. Hier wird das Spannungsfeld zwischen Blues-Stilistik und Funktionsharmonik des Jazz so weit getrieben, dass die Tonika als maj7-Akkord erscheint.

Notenbeispiel 4 ist eine gemäßigtere Variante der erweiterten Blues-Strophe, die gleichzeitig relativ häufig anzutreffen ist. Dieses Schema soll die Grundlage für einige weitere Betrachtungen auch im nächsten Workshop bilden.

LEFT-HAND-VOICINGS

Die wichtigsten Intervalle zur Charakterisierung eines Septimen-Akkordes sind die Terz und die Septime. In Dur-Akkorden mit kleiner Septime bilden diese beiden Töne eine verminderte Quinte (Tritonus) zueinander. Eine sehr einfache und gleichzeitig effektive Möglichkeit für LEFT-HAND-VOICINGS können also Zweiklänge sein, die aus solchen Tritonus-Verbindungen bestehen.  

Die Notenbeispiele 5 und 6 zeigen je eine Lösung für zwei unterschiedliche Tonarten. Man beachte, dass aufgrund der Möglichkeit, den Tritonus ohne Veränderung seines Sounds umzukehren, die Voicings für beide Tonarten nur einen Halbton Abstand voneinander haben. Dies ist eine wichtige Grundlage dafür, trotz sehr unterschiedlicher Tonarten bzw. Akkord-Grundtöne immer annähernd in der gleichen, optimal klingenden Lage für die linke Hand zu bleiben.
In Verbindung mit den oben beschriebenen Tritonus-Substituten ergibt sich aus dem Austauschen des Grundtons ja auch nichts weiter, als dass die Septime des Voicings beim Substitut zur Terz wird und umgekehrt. Es liegt auf der Hand, dass sich dieser Umstand besonders in einer kollektiven Improvisation günstig dafür auswirkt, dass die gestalterische Freiheit in der Wahl der Substitute nicht auf Kosten der Kalkulierbarkeit des Ergebnisses geht.

Im nächsten Beitrag werden die Akkordfolgen der Notenbeispiele 5 und 6 u.a. mit 3-stimmigen Voicings ausgeführt, deren Gestaltung dann in Abhängigkeit von einer konkreten Melodik und einer Walking-Bass-Linie auch modifiziert wird. Dabei stellen die hier bereits verwendeten zwei Tonarten auch insofern eine zusätzliche Herausforderung dar, dass nämlich die Voicings einerseits nicht einfach transponiert werden können, andererseits aber eine Umkehrung nicht so simpel funktioniert, wie beim 2-stimmigen Tritonus.

 

© 1996 by Wolfgang Fiedler