TARGETING (LEITTÖNE)

Leittöne sind eine wichtige Komponente bei der Melodiebildung. Sie sind damit auch für Tonmaterial (Skalen) verantwortlich, das von den bisher besprochenen modalen Systemen abweicht: Harmonisch Moll, Melodisch Moll und davon abgeleitete Skalen. Wenn man das Leitton-Prinzip erweitert, lässt sich daraus auch ein Improvisationsmuster ableiten, das eine Alternative und Ergänzung zu Skalen/Akkord-Systemen und pentatonischen Gebilden darstellt: das "Targeting".

Skalen, Skalen, Skalen ...

Wenn man alle melodischen Erscheinungen in Form von Skalen als Tonmaterial kategorisieren wollte, würde man Bücher allein damit füllen können. In den Skalen/Akkord-Theorien des Jazz gibt es solche Tendenzen, dazu noch einige Bemerkungen weiter unten. Eine  Schematisierung scheint aber nur dann zweckmäßig, wenn es für einen bestimmten Zusammenhang einer Vereinfachung, einer leichteren Verständigung und der besseren Übersicht dient, wie z. B. im Falle des Ionischen Systems und der Zuordnung pentatonischer Skalen (siehe die Beiträge MG 06 bis MG 09, Heft 10/2000 ff.). Ansonsten wird man der Musik und dem Bedarf an kreativen Freiräumen eher gerecht, wenn man sein Augenmerk zusätzlich auf grundlegende Prinzipien der Melodiebildung lenkt und damit Möglichkeiten einbezieht, die allein durch modale Systeme nicht abgedeckt werden können.

Der Leitton

So nennt man einen Ton, der sich in spannungsträchtiger Nähe zu einem tonalen Zentrum befindet und der zu diesem hinüberleitet. Normalerweise wird diese Bezeichnung auf den Halbton unter dem Grundton angewandt, also z. B. auf die siebte Stufe der Durtonleiter (große Septime). Der Leitton nach dieser Definition ist der exponierteste Vertreter unter den melodischen Spannungstönen, die einen gewissen Drang zur Auflösung in benachbarte “tonale Schwerpunkte” aufweisen. Ein anderer Vertreter dieser Gruppe wäre der “Quartvorhalt”, der zur Dur- oder Moll-Terz hin strebt. Leitton und Quartvorhalt sind beides skaleneigene Töne der Durtonleiter. Aber in der weiteren Entwicklung der Melodik nach Einführung des Ionischen Systems und der Kirchentonarten werden zunehmend chromatische und damit nicht immer skaleneigene Spannungstöne in der Melodik verwendet. Konkreteres über die Geschichte der Vorhalte und Spannungstöne aller Art finden Sie bei Bedarf in [1] unter WEITERE QUELLEN.
Nach dem Leitton-Prinzip kann man auch ganze Bausteine der Melodik als etwas betrachten, das sich über mehrere Etappen auf ein tonales Zentrum hin bewegt. Das “Targeting” (siehe SPECIAL) beschreibt eine solche Methode.

Harmonisch Moll

Hier haben wir es mit dem Fall zutun, dass ein chromatischer Spannungston in der musikalischen Entwicklung zum festen Bestandteil der Melodik wird. Die aeolische Skala, auch als “reine” oder “natürliche” Molltonleiter bezeichnet, enthält ursprünglich die kleine Septime. Im Zuge der Etablierung des Dur/Moll-Systems im 18./19. Jahrhundert “mutiert” diese kleine Septime zur großen und wird damit zu einem Leitton, ähnlich der großen Dur-Septime. In A-Moll ist dies das Gis anstelle des G (Abb. 1).


Abb. 1

Durch diese große Septime der Moll-Tonika ergibt sich, dass der gleiche Ton in der Dominante zur Dur-Terz wird. Die Moll-Kadenz hat damit einen Dur-Akkord als Dominante, z. B. E-Dur in einer A-Moll-Kadenz (siehe auch HARMONIC DOMINANT). So lautet zumindest die These über Ursache und Wirkung, bei der die Melodik als Ausgangspunkt gilt. Allerdings hat die entgegengesetzte Auffassung, nämlich dass die Dur-Terz der Dominante in der Moll-Kadenz der Grund für die große Septime der Tonika-Moll-Skala ist, letztlich zur Bezeichnung “Harmonisch Moll” geführt.
Melodisch Moll
Dies ist eine weitere Moll-Variante, von der es auch noch zwei unterschiedliche Versionen gibt: die “moderne” und die “klassische” (siehe Abb. 2). Die “klassische” unterscheidet sich vom “reinen” (aeolischen) Moll nur dann, wenn sie aufwärts gespielt wird. Abwärts ist sie wieder “rein”. Eigentlich unterstreicht das eher die primäre Bedeutung der Reihenfolge von Tönen, also der Melodik. Schließlich ist ein Leitton nur dann einer, wenn er zum Zielton hinführt, nicht dann, wenn er sich davon wegbewegt.


Abb. 2

Auch die große Sexte in der Aufwärtsbewegung deutet darauf hin. Die Tonfolge ab der Quinte aufwärts entspricht nämlich dann den ersten 4 Tönen einer regulären Dur-Skala auf dem Grundton der Dominante – also den Tönen, die sich auch in einer Dur-Pentatonik auf dem Grundton der Dominante ergeben. Da sich die Abwärtsbewegung vom Grundton entfernt, dann also kein Anwachsen der Spannung bewirkt, gibt es auch keinen Grund, die Töne der reinen Molltonleiter abzuwandeln. Die “moderne” Variante von Melodisch Moll dagegen ist ein typisches “statisches” Tonmaterial, bei dem die Aufwärts-Tonfolge der “klassischen” Variante zum generellen Schema geworden ist.

Skalensysteme in Harmonisch oder Melodisch Moll

Wie eingangs schon angesprochen, ist es zum Bestandteil von Skalen/Akkord-Theorien insbesondere im Jazz geworden, auch mit Harmonisch oder Melodisch Moll modale Systeme zu bilden, also die Töne von jeder Stufe der ursprünglichen Skala aus als eigenständige Tonleiter zu betrachten und mit einem Namen zu versehen. In Ermanglung verbindlicher Standards werden dann Bezeichnungen wie “HM 6” gefunden, oder in Anlehnung an die Kirchentonarten im Ionischen System werden deren Namen verwendet, dann aber notgedrungen zusätzlich mit Alterationen (Abwandlungen) versehen. Ein Beispiel dafür, gleichbedeutend mit “HM 6”, wäre “lydisch #9”, die Skala auf der 6. Stufe von Harmonisch Moll. Die Bezeichnung ist so erklärbar: Die Harmonische Moll-Skala ist die um einen Ton veränderte aeolischen Skala des Ionischen Systems [4], in dem die lydische Skala auf der 6. Stufe der aeolischen beginnt. Der abgewandelte Ton ist in der lydischen Skala die 2. (bzw. 9.) Stufe und muss damit zur “#9” werden.
Die ausführliche Darstellung aller Skalen solcher Systeme möchte ich an dieser Stelle zugunsten anderer Themen aussparen. Falls Sie sich darüber detailliert informieren möchten, empfehle ich das Buch [2] (siehe WEITERE QUELLEN).

Harmonic Dominant

Eine Ausnahme soll der Mode auf deren 5. Stufe von Harmonisch Moll sein. Nicht umsonst trägt diese Skala auch einen Namen, der auf ihre Zugehörigkeit zur Dur-Dominante einer Molltonart mit der Skala Harmonisch Moll hindeutet (Abb. 3). Den Klangcharakter der Skala kann man sich auch leicht wegen seiner Nähe zur Melodik nahöstlicher Musikkulturen wie z. B. der des Balkans einprägen.


Abb. 3

Zigeuner-Moll

Der Name weist recht eindeutig auf den ethnischen Ursprung dieser Variante von Harmonisch Moll hin. Hier sind gleich zwei Leittöne für die abgewandelte Struktur zuständig, nämlich zusätzlich zur großen Septime noch der zur Quinte, dem Grundton der Dominante (Abb. 4). Die ursprünglich reine Quarte, also ein Ganztonschritt unter der Quinte, rückt einen Halbton näher an die Quinte heran und wird damit zur übermäßigen Quarte. Damit enthält Zigeuner-Moll auch zwei “übermäßige” Tonsprünge in Gestalt einer kleinen Terz. Diese Skala weicht also schon recht deutlich von diatonischen Strukturen ab und klingt damit auch “noch orientalischer” als Harmonisch Moll.


Abb. 4

Würde man hier nun, nach dem gleichen Prinzip wie bei “Harmonic Dominant”, den Mode auf der 5. Stufe bilden und diesen wie bei “Moll” mit dem Attribut “Harmonisch” benennen, müsste diese Skala dann eigentlich “Harmonisch Harmonic Dominant” heißen (siehe Abb. 4). Denn im Unterschied zum ursprünglichen Harmonic Dominant ist hier nur aus deren kleiner eine große Septime geworden, also als Leitton näher an den Grundton der Dominante gerückt – das gleiche Muster, das der Bezeichnung “Harmonisch” Moll zugrunde liegt. Aber hier zeigt sich auch, wie die Kategorisierung jedweder Modi bereits abgewandelter Skalen ins Absurde abgleiten kann.

 


 
SPECIAL: Targeting

“Targeting” nennt man eine Methode in der Jazzimprovisation, bei der Zieltöne (Targets) durch Leittöne im erweiterten Sinne dieses Begriffes angesteuert werden. Die Annäherung an den Zielton (auch “Approach”) kann durch einfaches Voranstellen eines Leittons oder durch ein “Umspielen” in mehreren Etappen erfolgen. Dies kann entweder in einer Art “Pendelbewegung” um den Zielton herum oder auch nur von einer Seite aus erfolgen. Die Annäherungs-Tonschritte dabei sind typischerweise von unten chromatisch (Halbton-Schritte) und von oben diatonisch, also als Töne einer diatonischen Skala, die dem jeweiligen Akkord oder auch nur dessen Grundton zugeordnet werden kann. Die Zieltöne sind die Dreiklangstöne des Akkords der Zentraltonart, also die “Pfeiler” der Tonalität, die im melodischen Ablauf als Ruhepunkt empfunden werden.



In der Abbildung sehen Sie mehrere unterschiedlich weit ausholende Varianten dessen in C-Dur. Sie können sich das im MIDI-File anhören. Dort werden die 4-taktigen Muster in der Wiederholung um einen Halbton nach oben transponiert – eine mögliche Methode, wenn man so etwas gleich als Übung durch alle Tonarten betreiben möchte. Als Begleitung hören sie dazu, statt der Dreiklänge C-Dur, C#-Dur, D-Dur etc., eine Akkordfolge der II-V-I-Progression (Jazz-Kadenz, die in C-Dur aus der Folge Dm – G7 – Cmaj besteht). Das soll zeigen, dass auch beim Targting ähnliche modale Prinzipien wirksam sind, wie bei den Diatonik-/Pentatonik-Systemen (siehe z. B. MG 09, KB 02/01 bzw. [3] unter WEITERE QUELLEN).

 


 

Weitere Quellen

 

[1] – DER MUSIKALISCHE SATZ (14. bis 20. Jahrhundert, Rhythmik, Harmonik, Kontrapunktik, Klangkomposition ...),
Herausgegeben von Walter Salmen und Norbert J. Schneider, Edition Helbling, Innsbruck, ISBN 3-900590-03-6.

[2] – DIE NEUE HARMONIELEHRE (Band 1, 2 und Praxisheft), Frank Haunschild, AMA-Verlag, ISBN 3-927190-00-4 (Band 1), ISBN 3-927190-08-X (Band 2), ISBN 3-927190-57-8 (Praxisheft).

[3] – PDF: Schema - System aus diatonischen Dur/Moll-Skalen und pentatonischen Mustern .

[4] – PDF: Schema des Ionische Systems

 

© 2001 by Wolfgang Fiedler