PENTATONIK (2)
In diesem Beitrag wird die Einbeziehung chromatischer Zwischentöne wie Blue Notes (Abb. 1) in die pentatonischen Systeme erörtert. Hierbei werden zwei unterschiedliche Ansätze gezeigt: Erweiterte pentatonische Muster und ihr Verhältnis zum diatonischen Tonsystem, also zu Dur/Moll-Tonarten (Abb. 2) sowie die Einsatzmöglichkeiten (erweiterter) pentatonischer Muster im Blues (Abb. 3).
Bei der Gelegenheit wird der Inhalt und Sinn des Begriffs Bluestonleiter untersucht.
Blaue Noten
Wenn man die Pentatonik in ihrer Intervallstruktur losgelöst vom Grundton betrachtet, muss nur ein einziger chromatischer Zwischenton hinzugefügt werden, um den Tonfolgen einen Blues-Sound zu verschaffen. So gesehen gibt es eigentlich nicht mehrere, sondern nur DIE Blue Note. Konkret handelt es sich dabei um die kleine Terz, die der Pentatonik in ihrem Dur-Modus hinzugefügt wird (Abb. 1) und die dann gleichzeitig mit der großen Terz darin enthalten ist.
Abb. 1
Wenn im Zusammenhang mit Blues von Blue Notes im Plural die Rede ist, dann wird damit in der Regel noch die FLATED FIFTH (verminderte Quinte) gemeint. Diese ist aber vom Ursprung her nichts anderes als die oben genannte kleine Terz, die in dem Augenblick zur verminderten Quinte wird, wenn sich die gleiche Skala im Moll-Modus befindet. Dass im Blues oft beide Zwischentöne überm gleichen Grundton verwendet werden, manchmal sogar gleichzeitig (in einem Mehrklang), liegt daran, dass Dur- und Moll-Pentatonik-Licks über dem gleichen Grundton miteinander vermischt werden.
“Erweiterte Pentatonik”
Die Betrachtungsweise, dass es sich bei der Blue Note nur im einen einzigen Zwischenton in der ansonsten “reinen” Pentatonik handelt, vereinfacht vieles und lässt auch die komplexere Bluestonalität leichter in praktikable Muster bringen. Für die daraus resultierende Skala gibt es keinen Standard-Begriff, wenn man mal davon absieht, dass sie in ihrem Moll-Mode landläufig als BLUESTONLEITER bezeichnet wird. Im gleichnamigen Kasten können Sie nachlesen, warum diese Verwendung des Begriffs zwar nachvollziehbar ist, warum damit das Tonmaterial des Blues aber gleichzeitig nur sehr unvollständig beschrieben wird.
Angesichts der in Abb. 1 ersichtlichen Struktur scheint die Bezeichnung “Erweiterte Pentatonik” zweckmäßiger. Die Gültigkeit der bisher gezeigten Systematisierung pentatonischer Skalen und ihrer Modi wird dadurch nicht eingeschränkt – im Gegenteil: sie wird dadurch auch auf den Blues anwendbar. In Abb. 2 sehen Sie ein Schema, das der Abb. 4 im Beitrag Pentatonik (1) sehr ähnlich ist. Dort wurden 3 “reine” pentatonische Skalen gezeigt (Es-Dur/C-Moll-Pentatonik, As-Dur/F-Moll-Pentatonik und Bb-Dur/G-Moll-Pentatonik), die in ihrer Summe die (diatonische) C-Moll/Es-Dur-Tonleiter bilden.
Hier dagegen bezieht sich das Ganze auf die C-Dur/A-Moll-Tonalität, diesmal mit der Blues Note. In der oberen Zeile sind hier auch alle chromatischen Zwischentöne dargestellt, damit Sie in der tabellarischen Anordnung erkennen können, dass durch die Einbeziehung der Blue Notes in der Summe nur noch zwei der 12 Töne nicht vertreten sind (in diesem Beispiel Des und Ges).
Abb. 2
Im Grunde könnte man, sofern man die hier dargestellte Möglichkeit der Erweiterung als bekannt voraussetzt, auch das Attribut “erweitert” weglassen. Ob man die “reine” oder die “erweiterte” Pentatonik anwendet, ist letztlich nur eine stilistische Frage, eine Frage des Sounds.
Die MIDI-Files
Hier sind 4 verschiedene sogenannte “Drills” als Standard MIDI-Files (Format 0) vorhanden. Dabei handelt es sich um 4- bzw. 8-taktige Melodielinien auf- und abwärts, in denen die 3 erweiterten Pentatonik-Skalen aus Abb. 2 in unterschiedlicher Weise verarbeitet werden. Die Tonfolgen werden zunächst als Achtel relativ langsam gespielt, damit sie gut nachvollziehbar und bei Bedarf auch als ausgedruckte Noten gut lesbar sind. Danach erklingen sie im doppelten Tempo mit Begleitung, um ihre klangliche Wirkung anzudeuten. Die Art der Begleitung soll den Zusammenhang zwischen der in Abb. 2 dargestellten Dur/Moll-Skala und dem Begriff “Tonart” deutlich machen. Analog zur Abb. 2 bewegt sich das Ganze in C-Dur/A-Moll. Die Akkordbegleitung beginnt aber immer mit D-Moll, wodurch noch einmal auf den dorischen Mode (Moll-Subdominante) als den für die Blues-beeinflusste Populärmusik typischen Umgang mit Moll aufmerksam gemacht wird.
Sie können diese Files als Vorlage oder Anregung zum Gestalten von Übungen für die rechte Hand betrachten – deswegen die Bezeichnung “Drills” –, oder Sie dienen einfach nur als Klangbeispiele. Diese und weitere Sequenzer- und MIDI-Files werden zu einem späteren Zeitpunkt noch zu dem bereits angekündigten Toolkit zusammengefasst, mit dem Sie dann auch Varianten für Blues oder welche ohne Blue Notes erhalten.
Im Beitrag "Pentatonik (3) wird zu den Tonart-Pentatonik-Beziehungen noch einmal eine umfassende Übersicht gezeigt. Dann werden auch die hier nur angedeuteten harmonischen Funktionen (Tonika, Moll-Subdominante etc.) in Gestalt von konkreten Akkordsymbolen in ihrem Verhältnis zu konkreten Skalen noch einmal vollständig überschaubar gemacht. Eine ähnliche Form der Systematisierung finden Sie auch im BUCHTIPP [1], dort in Verbindung mit noch weiteren Improvisationsmustern, Drills, Licks und ganzen Stücken.
Die Bluestonleiter
Ohne die Fusion afrikanischer und europäischer Musik im Detail untersuchen zu wollen, kann man feststellen, dass die Bluesmelodik mit ihrer Gleichzeitigkeit von Dur und Moll, kleiner und Großer Terz und mit der charakteristischen kleinen Septime in jedem Akkord eine Art “Mutation” in der Vermischung reiner moll-pentatonischer Elemente mit afrikanischer Melodik (mit großer Terz) ist. Ohne nach einer Auflösung der Widersprüchlichkeiten zwischen den Elementen unterschiedlicher Musikkulturen zu trachten, haben sich mit dem Blues und den davon beeinflussten Musikrichtungen einfach neue Hör- und Spielgewohnheiten etabliert.
Eine Bluestonleiter an sich gibt es eigentlich nicht, dazu ist der Umgang mit der Melodik in den verschiedensten Blues-Spielarten zu unterschiedlich. Je weiter wir zu den Wurzeln vordringen, desto stärker erinnert die Melodik an die afrikanische GOGO-Skala, deren Töne (über dem Grundton C) in Abb. 3 im oberen System rot gekennzeichnet sind – siehe auch KB 06/00, S. 157, oder im Internet (siehe BUCHTIPPS).
Eines der wichtigsten Merkmale daraus, das wir auch im Blues finden, ist die Verwendung der kleinen Septime gleichzeitig mit der großen Terz. In den Modi der diatonischen Skalen kommt diese Konstellation nur in der mixolydischen Skala vor, also im Modus der Dur-Tonleiter auf deren Quinte als Grundton. Diese Skala wird in der europäischen Musik mit der Dominante in Verbindung gebracht. Nur in diesem Zusammenhang entsteht ein Akkord, der gleichzeitig die große Terz und die kleine Septime enthält und der deswegen dort als “Dominant-Septimenakkord” bezeichnet wird. Angewandt auf die Blues-Tonalität ist diese Bezeichnung aber eher unangebracht, denn hier erscheint die kleine Septime auch über dem Grundton der Zentraltonart (Tonika), was den Zusatz “Dominant-...” sinnlos oder gar widersprüchlich werden lässt.
Hier zeigt sich ein weiterer wichtiger Unterschied zwischen Blues und europäischer Musiktradition: Das Tonmaterial wird nicht in gleicher Weise modal verwendet. Während beispielsweise in der europäischen Musik die große Terz der Tonika in der Subdominante als große Septime erklingt, wird im Blues anstelle dessen die gleichbleibende Intervallstruktur des Tonmaterials dem gerade aktuellen Akkord übergestülpt. In jedem dieser Akkorde erklingt somit immer die kleine Septime über dem Grundton des Akkordes, was dazu führt, dass die große Terz der Zentraltonart (Tonika) im 5. Takt, also wenn die Subdominante dran ist, geradezu “verboten” ist. Dieser Ton verträgt sich (als die große Septime der Subdominante) beim besten Willen nicht mit der kleinen Septime dieses Akkords, welche zum Grundton der Zentraltonart wiederum die kleine Terz ist.
Umgekehrt ist es jederzeit möglich, in der Tonika ebenfalls die kleine Terz zu spielen, denn diese ist in ihrer Reibung zur großen Terz als Blue Note ja geradezu charakteristisch. Aus diesem Grund ist die (erweiterte) Moll-Pentatonik so gut wie immer mit dem jeweiligen Akkord “kompatibel” – nicht zuletzt der entscheidende Grund dafür, dass man ihr (vor allem in Publikationen aus den USA) den Namen BLUESTONLEITER zugedacht hat.
Die Pentatonik und der Blues
Alle diese Zusammenhänge sorgen dafür, dass das Tonmaterial im Blues nicht genauso in einer bestimmten Skala zusammengefasst werden kann, wie es etwa im Ionischen System mit den Modi der diatonischen Skalen geschieht. Da aber die melodiebildenden Grundbausteine weitgehend pentatonisch sind, kann man diese auch hier sehr ähnlich systematisieren, wie das im Workshop-Thema im Zusammenhang mit der Tonart (der diatonischen Skala) geschieht. In Abb. 3 sehen Sie unterhalb der Auflistung sämtlicher Halbtöne 4 erweiterte pentatonische Skalen, die für eine Bluesmelodik über dem Grundton C in Frage kommen. Die oberste der 4 Skalen ist die Moll-Pentatonik über C – also eben die Skala, die landläufig als Bluestonleiter bezeichnet wird. Sie kann in allen Abschnitten eines Blues-Schemas gleichermaßen erklingen. Mehr Varietät in der Melodik erhält man, wenn man statt dessen oder zusätzlich Elemente der anderen Skalen dann verwendet, wenn sie nach den oben genannten Kriterien im aktuellen Akkord des Blues-Schemas keine “verbotenen” Töne enthalten (insbesondere die große Septime). Die unterste Skala, die Dur-Pentatonik, ist daher nur bedingt geeignet, nämlich vor allem in der Tonika.
Abb. 3 – Die Pentatonik im Blues
Aus dem Schema in Abb. 3 wird ersichtlich, dass in der Summe alle Töne des Zwölftonsystems vorkommen. Das unterstreicht noch einmal, dass es Unsinn wäre, hier aus der Summe der Töne eine “komplettes” Bluestonmaterial ableiten zu wollen. Dagegen ist der Umgang mit diesen pentatonischen Mustern mit bis zu 4 verschiedenen Bezugstonarten sehr viel praktikabler, vorausgesetzt, man kombiniert sie musikalisch sinnvoll, mit dem Schema bestenfalls als Anhaltspunkt. Dazu können wieder die MIDI-Files (Drills) als Orientierung dienen. Die konkreten, (erweitert) pentatonischen Bausteine müssen nur entsprechend der Abb. 3 in die entsprechende Tonart gebracht werden.
Die MIDI-Files
Drill_01.MID
Drill_02.MID
Drill_03.MID
Drill_04.MID
GLOSSAR
chromatisch – bezieht sich auf die gleiche Klangfärbung von Halbtonschritten im wohltemperierten Tonsystem.
diatonisch – charakterisiert das Tonsystem, in dem Tonleitern aus zwei verschiedenen Tonschritten aufgebaut sind: aus Halb- und Ganztonschritten. Innerhalb einer Oktave werden diese zu 7 Tonstufen kombiniert.
Dominante – harmonische Funktion in einer Kadenz mit der 5. Stufe (Quinte) der Tonika-Skala als Grundton.
Kadenz – Standard-Abfolge harmonischer Funktionen, ein Grundbaustein musikalischer Formen.
Kirchentonarten – auch Ionisches System, systematisiert die Bezeichnungen für diatonische Skalen, die alle aus den gleichen Tönen bestehen, aber von jeweils einer anderen Tonstufe dieser Tonreihe als Grundton ausgehen.
Modus – auch Mode (engl.), bezeichnet den Bezug einer (diatonischen oder pentatonischen) Skala zu einer ihrer Tonstufen als Grundton – siehe auch Kirchentonarten.
Subdominante – harmonische Funktion in einer Kadenz mit 4. Stufe (Quarte) der Tonika-Skala als Grundton.
Tonika – harmonische Funktion in einer Kadenz, deren Grundton der Zentraltonart entspricht.
BUCHTIPPS
[1] – BASICS / Das Piano Buch (mit Audio-CD), Wolfgang Fiedler, AMA-Verlag, ISBN 3-927190-31-4
[2] – DIE NEUE HARMONIELEHRE (Band 1, 2 und Praxisheft), Frank Haunschild, AMA-Verlag, ISBN 3-927190-00-4 (Band 1), ISBN 3-927190-08-X (Band 2), ISBN 3-927190-57-8 (Praxisheft).
[3] – DER MUSIKALISCHE SATZ (14. bis 20. Jahrhundert, Rhythmik, Harmonik, Kontrapunktik, Klangkomposition ...),
Herausgegeben von Walter Salmen und Norbert J. Schneider, Edition Helbling, Innsbruck, ISBN 3-900590-03-6.
© 2001 by Wolfgang Fiedler