WOHLTEMPERIERT
In diesem Beitrag geht es um die wohltemperierte Stimmung und deren mathematische und musikalische Hintergründe. Begriffe wie das Pythagoreische Komma werden anhand einer Grafik veranschaulicht und die Bezeichnungen Chromatik und Diatonik werden erörtert. Ferner werden Erscheinungen besprochen, die sich aus der wohltemperierten Stimmung ergeben (Schwebungen, der "künstliche" Tritonus, spezielle Techniken beim Klavier(ver)stimmen.
Diatonik und Chromatik
Die afrikanische GOGO-Skala, die praktisch aus dem 4. bis 10. Partialton besteht (siehe Heft 6/00), bezieht sich immer nur auf einen Grundton, und verschiedene Tonarten kennt diese Musik schon gar nicht. Auch wenn sich die verwendeten Tonmaterialien teilweise deutlich unterscheiden, ist das in den meisten Musikkulturen ähnlich. Sofern Grundtöne wechseln, geschieht das meist nur im gleichen Sinne, wie in der Melodik, als musikalisch-formale Funktion, bei der trotzdem ein gleichbleibendes tonales Zentrum beibehalten wird.
Mindestens bis zur Mitte des vergangenen Jahrtausends gilt das im Wesentlichen auch für die europäische Musik. Für deren Tonmaterial steht der Begriff DIATONIK im Vordergrund, die das Vorhandensein zweier Tonschritte (Halb- und Ganztonschritte) als Grundbausteine bezeichnet. Auch wenn dieser Begriff heute noch auf solche Tonleitern angewendet wird, muss man klarstellen, dass er aber auch der Unterscheidung des diatonischen vom “chromatischen” Tonsystem dient. CHROMATIK ist wiederum abgeleitet von “chroma” (= Farbe), und bezeichnet im musikalischen Sinne die gleichmäßige “Färbung” der Halbtonschritte, die durch das nachfolgend beschriebene wohltemperierte Tonsystem erreicht wird.
Erforderlich wird die Chromatik dadurch, dass die “reinen” (ganzzahligen) Frequenzverhältnisse der Partialtonreihe, die auch im diatonischen Tonsystem gelten, nur zu einem gemeinsamen Grundton, nicht aber untereinander gelten. Sobald sich die gleichen Melodie- oder Akkord-Töne auf unterschiedliche Grundtöne beziehen, müssen aber die Intervalle in die verschiedensten Richtungen miteinander “kompatibel” sein (Komplementärintervalle – mehr dazu in der nächsten Folge). Besonders deutlich wird das dann, wenn Instrumente in Gebrauch sind, auf denen polyphon oder in Akkorden gespielt wird. Diese lassen sich bei einer “reinen” Stimmung bestenfalls in einer einzigen Tonart gebrauchen. Die mathematischen Zusammenhänge, die dieser Problematik zugrunde liegen, waren schon im antiken Griechenland bekannt, und lassen sich wie folgt beschreiben:
Das pythagoreische Komma
Die Quinte (3. Partialton) ist das Intervall, das in musikalischen Abläufen am häufigsten für einen Grundtonwechsel in Betracht kommt und auch ansonsten eine zentrale Rolle spielt (Dominante, Quintenzirkel – siehe Glossar). Deutet man die Quinte zu einem Grundton um und bildet dazu wiederum eine Quinte, macht auch die wieder zum Grundton mit einer weiteren Quinte darüber, kommt man bei der 12. Quinte an einem Ton an, der annähernd der 7. Oktave über dem ursprünglichen Grundton entspricht – aber eben nur annähernd. Die Abweichung entsteht dadurch, dass eine Quinte zu ihrem Grundton ein Frequenzverhältnis von 3:2 (1,5) hat. Setzt man darüber wieder eine Quinte, dann hat diese zum ursprünglichen Grundton ein Frequenzverhältnis von 1,5 x 1,5 = 1,52 = 2,25. Führt man das in der Weise fort, bis man bei der 12. Quinte angekommen ist, dann erhält man eine Frequenz, die (ca.) der 129,75-fachen Grundtonfrequenz entspricht (= 1,512). Hätte man den Grundton statt dessen 7 x oktaviert, ergäbe das die genau 128-fache Frequenz des Ausgangstons (= 27). Das Frequenzverhältnis zwischen dem “7-Oktaven-Ton” zum “12-Quinten-Ton” beträgt also etwa 1: 1,0136431. Diese Abweichung nennt man das “pythagoreische Komma”. Der Quintenzirkel, der ja eigentlich darauf beruht, dass die 12. Quinte mit dem ursprünglichen Grundton identisch ist, geht also unter Verwendung reiner Quint-Schritte mit einem Frequenzfaktor von 1,5 nicht auf (siehe Abb.).
Bei Partialtönen mit höherer Nummer werden diese Abweichungen noch deutlicher. Der 5. Partialton, vergleichbar der großen Terz, hat zur unmittelbar darunter liegenden Oktave des Grundtons (4. Partialton) ein Frequenzverhältnis von 1,25:1 (oder 5:4). Deutet man diesen Ton zum Grundton (bzw. zu dessen Oktave) um, bildet darüber wiederum einen Ton mit der 1,25-fachen Frequenz der ersten Terz, wäre die 1,25-fache Frequenz des resultierenden Tons dann die Oktave des ursprünglichen Grundtons. Einfacher gesagt: Drei große Terzen übereinander sollten eigentlich eine Oktave ergeben. Im Falle von reinen großen Terzen ergäbe das aber einen Ton, der zur reinen Oktave des ursprünglichen Grundtons ein Frequenzverhältnis von ca. 0,9765625 : 1 hat, also deutlich zu tief ist.
Die Wohltemperierte Stimmung
Der Begriff ist von “temperieren” (= mäßigen, regeln) abgeleitet und bezieht sich hierbei auf das Ausgleichen der Frequenzverhältnisse von Tönen und Intervallen. Wenn man lediglich die Oktave mit ihrem Frequenzverhältnis 2:1 genau beibehält und diese in 12 genau gleiche Tonschritte unterteilt, können die wichtigsten (ersten 16) Töne der Partialtonreihe annähernd genau dargestellt und gleichzeitig in bezug auf die Frequenzabweichung untereinander neutral gehalten werden. Aus dem Beispiel mit den Quinten lässt sich ableiten, dass das Frequenzverhältnis von einem zum nächsten Halbton dazu eine Zahl sein muss, die 12 x mit sich selbst multipliziert 2 ergeben muss (x12 = 2, x = ca. 1,0594631). Ein Halbtonschritt entspricht also einer Frequenz, die um den Faktor (ca.) 1,0594631 erhöht wird. Alle anderen Intervalle lassen sich aus dieser Zahl mit hoher Annäherungsgenauigkeit ableiten. Beispiel: Die große Terz über dem Kammerton A (440 Hz) hätte die Frequenz 440 x 1,05946314 = 440 x 1,2599211 = (ca.) 554,3653 Hz. Hält man die “reine” große Terz dagegen, ergäbe das eine Frequenz von 440 x 1,25 = 550 Hz.
Diese Frequenzverhältnisse wurden schon Ende des 16. Jahrhunderts von Prinz Chu recht genau berechnet. In Europa wurde die darauf beruhende wohltemperierte Stimmung 1691 durch Andreas Werckmeister eingeführt. Johann Sebastian Bachs “Wohltemperiertes Klavier”, eine zweiteilige Sammlung aus Präludien und Fugen in allen Tonarten, hat dann diesem Tonsystem in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts endgültig zum Durchbruch verholfen.
Schwebungen
Die wohltemperierte Stimmung beruht also darauf, alle Intervalle (außer der Oktave) mehr oder weniger stark zu verstimmen. Gegenüber der absolut reinen Quinte mit einem Frequenzfaktor von 1,5 hat die wohltemperierte Quinte den Faktor (ca.) 1,4983, weicht also nur sehr gering davon ab. Bei der Überlagerung der des höheren Tons über den tieferen würde ein genaues Frequenzverhältnis von 1,5:1 für einen konstanten, sehr homogenen Klang sorgen. Dadurch, dass die wohltemperierten Quinte eine nur geringfügig tiefere Frequenz hat, hinkt diese sozusagen leicht hinterher. Das hört sich das dann so an, als würde der Zusammenklang in einer niedrigen Frequenz modulieren (in der Oktave von C3 bis C4 liegt diese Frequenz in Größenordnungen nahe 1 Hz).
Dieses Modulieren bezeichnet man als Schwebungen. Beim Stimmen von Instrumenten können Schwebungen ausgenutzt werden, um an ihrem bloßen Vorhandensein eine Verstimmung, und am Tempo der Schwebungen deren Ausmaß wahrzunehmen. Das gilt aber vor allem für die Quinten und Quarten. Versucht man, eine wohltemperierte, große Terz ohne andere Referenz-Intervalle einzustimmen, muss man sich eher an deren Sound orientieren. Diesen könnte man, verglichen mit der “reinen” großen Terz (5. Partialton), als schärfer oder härter charakterisieren.
Der Tritonus
Mit dem wohltemperierten Tonsystem entsteht ein Intervall, das sich eigentlich keinem Partialton eindeutig zuordnen lässt: der Tritonus. Sein Frequenzverhältnis zum Grundton ist genau die Quadratwurzel aus 2, also die genaue Mitte zwischen Grundton und Oktave. Wie Sie im Heft 06/00 sehen konnten, liegt der 12. Partialton um 50 Cent tiefer und damit genau auf halber Strecke zur darunter liegenden, reinen (wohltemperierten) Quarte. In der Relation zur darüber liegenden Oktave bildet der 12. Partialton demzufolge ein Intervall, das um 50 Cent größer ist, als der wohltemperierte Tritonus. So gesehen gibt es in der Partialtonreihe einen “großen” und einen “kleinen” Tritonus, während der wohltemperierte Tritonus genau dazwischen liegt.
Jemand, dessen Hörgewohnheiten auf der Partialtonreihe und nicht auf der wohltemperierten Stimmung beruhen, würde den Tritonus des europäischen Tonsystems als extrem verstimmtes Intervall empfinden, genauer: als Viertelton. Diese Feststellung wirft die Frage auf, ob unser Begriff von Vierteltönen, wie wir ihn z. B. auf die orientalische Musik anwenden, nicht irreführend, weil eine Verdrehung der Tatsachen ist. Dass die Bezeichnung “Viertelton” in diesem Zusammenhang außerdem noch falsch oder zumindest ungenau ist, können Sie bei Bedarf im Buchtipp [1] den Erläuterungen zum klassischen Tonsystem der türkischen Musik entnehmen.
Die Kunst des Klavier(ver)stimmens
Pianisten, besonders mit klassischem Background, wissen es nicht sehr zu schätzen, wenn ein Piano mit einem Stimmgerät gestimmt wurde. Der Grund: Es ist “zu wohl” temperiert.
Der erfahrende Klavierstimmer versteht es, beim Stimmen von Quinten relativ genau das Tempo der Schwebungen zu hören und daran zu messen, ob er der wohltemperierten Abweichung von der reinen Quinte nahe genug kommt. Aber auch bei größter Perfektion kann das trotzdem nur annähernd gelingen. Die Intervalle, die von den ursprünglichen Referenztönen weiter entfernt sind, also von bereits bewusst leicht verstimmten Quinten abgeleitet werden, weichen naturgemäß immer stärker vom mathematischen Optimum ab. Daher gibt es Tonarten, die auf charakteristische Weise anders verstimmt klingen, als wieder andere Tonarten. Im Gesamtklang der Pianos entstehen stärkere Schwebungen, als bei mathematisch genauer, wohltemperierter Stimmen, wodurch der Klang lebendiger und “fülliger” wird.
Nebenbei bemerkt, besteht die hohe Kunst des Klavierstimmens auch noch darin, bereits die Oktave schweben zu lassen, und zwar so, dass der Oktavabstand (extrem geringfügig!) zu klein ist. Die dabei angestrebten Schwebungen liegen in Größenordnungen von 0,02 bis 0,05 Hz, also pro Minute ein bis zwei Durchläufe. Das ungeübte Ohr wird diese Oktave trotzdem als völlig rein wahrnehmen, und gleichzeitig hilft diese Methode dabei, der geringfügig zu tiefen Stimmung der Quinten entgegenzukommen.
Klangbeispiele
Hier finden Sie zwei MP3-Files mit Sinustönen in großen Terzen bzw. Quinten (TERZEN.MP3 und QUINTEN.MP3). Darin hören Sie nacheinander zuerst die reinen, dann die wohltemperierten und zuletzt eine Überlagerung beider Varianten dieser Intervalle, jeweils auf dem Kammerton A (440 Hz). Sie werden feststellen, wie geringfügig die Unterschiede zunächst erscheinen und erst bei der Überlagerung in Form von Schwebungen zwischen den beiden unterschiedlich gestimmten Intervalltönen richtig deutlich werden.
GLOSSAR
Cent – Maßeinheit für die Feinverstimmung von Tönen. Ein Halbtonschritt im Zwölftonsystem entspricht 100 Cent.
Dominante – abgeleitet von “Dominanz” (= Vorherrschaft). In der Musiksprache bezeichnet Dominante ein Formelement (Ton, Tonfolge, Akkord) mit besonders starker Spannung, zu einer Auflösung in einen stabilen Ruhezustand (“Tonika”) drängend.
Intervall – Zwischenraum, im musikalischen Sinne der Abstand zwischen zwei Tönen.
Oktave – Intervall, das durch Verdopplung einer Frequenz entsteht.
Partialtonreihe – oder Teiltonreihe. Der Begriff entspringt der Teilung eines schwingenden Körpers, wodurch ein ganzzahliges Vielfaches der Grundfrequenz entsteht (vgl. Flageolett).
Quintenzirkel – ein Schema, vergleichbar dem Zifferblatt einer Uhr, in dem der Grundton (einer Tonart) mit jedem Schritt im “Uhrzeigersinn” um eine Quinte höher liegt (entgegen dem Uhrzeigersinn also je eine Quinte tiefer). Der Ton C bzw. die Tonart C-Dur stehen dabei in der “12-Uhr”-Position.
Tritonus – abgeleitet von “3 Töne”, Intervall, das durch drei aufeinanderfolgende Ganztonschritte entsteht.
BUCHTIPPS
[1] – MUSIK DER TÜRKEI, Türk Müzigi, Vertrieb: “Pläne” Dortmund
[2] – DIE NEUE HARMONIELEHRE, Frank Haunschild, AMA-Verlag, ISBN 3-927190-00-4 (Band 1)
[3] – DIE KOSMISCHE OKTAVE, Hans Cousto, Synthesis Verlag Siegmar Gerken, ISBN 3-922026-24-9
© 2001 by Wolfgang Fiedler