SYMMETRISCHE SKALEN

Der Themenkomplex Melodik/Tonmaterial wäre unvollständig abgehandelt, ohne Skalen wie die Ganztonleiter und die Haltbton-Ganzton- bzw. Ganzton-Halbtonleiter  zu betrachten. Darüber hinaus wird untersucht, auf welche Weise und in welchen Zusammenhängen sich daraus Bausteine für eine Melodiebildung ableiten lassen (z. B. die Alterierte Skala) und welche Beziehungen zur Harmonik dabei die wesentlichen Hintergründe bilden. Ganztonleiter, Halbton-Ganzton-Skala und deren Gegenstück, die Ganzton-Halbton-Skala sind nicht nur aus theoretischer Sicht interessant. Unter bestimmten Voraussetzungen liefern diese Skalen das Material für spannungsvolle Melodik (in der Improvisation).

Symmetrisch

Dieses Attribut bezieht sich auf die Intervallstruktur der Skalen, die entweder aus völlig gleichen Intervallen oder aus in sich gleichen Sequenzen von Intervallen bestehen. Hier besteht eine deutliche Beziehung zu den symmetrischen Intervallen (siehe auch MG 05 / KB 09/00), denn zwei Töne der Ganztonleiter ergeben eine große Terz und drei Töne einen Tritonus, während zwei Töne der HTGT sowie der GTHT jeweils eine kleine Terz ergeben und zwei dieser kleinen Terzen ebenfalls einen Tritonus. Die Ganztonleiter unterteilt die Oktave also entweder in 6 gleiche Ganztonschritte, in 3 große Terzen oder in 2 übermäßige Quarten (Tritonus), während HTGT und GTHT die Oktave in 4 kleine Terzen oder 2 verminderte Quinten (ebenfalls Tritonus) unterteilt.

Gruppenbildung

Diatonische Skalen haben innerhalb einer Oktave nur einen Grundton und repräsentieren somit eindeutig eine Tonart. In symmetrischen Skalen kann dagegen jeder Ton, von dem aus die Intervallstruktur genau die gleiche ist, als Grundton betrachtet werden. Bildet man Beziehungen zwischen diatonischen und symmetrischen Skalen, so wirkt die symmetrische Skala als eine Art gemeinsamer Nenner zwischen Tonarten, deren Grundtöne im gleichen Abstand zueinander liegen, wie die innerhalb der symmetrischen Skala.

Besonderst deutlich wird das bei der HTGT bzw. GTHT, indem diese Skalen als Bindeglied zwischen Tonarten im Abstand von kleinen Terzen wirken können. Im Themenkomplex HARMONIK, der mit dem nächsten Beitrag startet, wird u. a. von Tonartgruppen oder Systemen die Rede sein, die sich daraus ergeben (siehe auch unten "Weitere Quellen").
Im Umkehrschluss ist die Zahl der unterschiedlichen symmetrischen Skalen recht gering. Von der Ganztonleiter gibt nur 2 Exemplare, die um einen Halbtonschritt zueinander versetzt sind, während es von der HTGT sowie der GTHT nur je 3 verschiedene gibt – jeweils erkennbar an der Anzahl der Halbtonschritte bis zur Wiederholung der Intervallstruktur. Diese reduzierte Vielfalt kommt im Falle ihrer Verwendung der improvisatorischen Freiheit sehr entgegen, denn gleiche Licks oder Sequenzen können in sehr unterschiedlichen harmonischen Zusammenhängen zum Einsatz kommen – natürlich nur, wenn man die Systematik darin im Überblick hat.

Tonmaterial

Auf den ersten Blick erscheinen solche Skalen für eine Melodiebildung sehr speziell. Dabei muss man sich aber (wieder einmal) klar machen, dass Tonmaterial und Tonfolgen zwei verschiedene Dinge sind, dass also Skalen eben nicht primär als Tonfolgen zu betrachten sind. In den meisten Fällen besteht die Melodik aus kleinen Bausteinen einer Skala, die dann auch mit denen anderer Skalen gemischt sein können (siehe auch weiter unten - "Skalen-Mixturen (Alterierte Skalen)".

In den weiter unten beschriebenen Klangbeispielen werden aber auch Melodielinien verwendet, in denen die Skalen in reiner Form vorkommen. Auch wenn so etwas relativ selten als Effekt tatsächlich eingesetzt wird, zeigt es doch deutlich die Möglichkeiten, daraus beliebige Mixturen zu bilden.

Spannungstöne und Tonarten

Skalen wie diese bringen tonale Spannungen mit sich und eignen sich damit besonders als Tonmaterial in der “instabilen” harmonischen Funktion, der Dominante. Ordnen wir diese Skalen aber der Dominante zu, um damit der Praxis Rechnung zu tragen, dann ergibt sich daraus ein etwas unübersichtlicheres Verhältnis zwischen Skalen und Tonarten. In Abb. 1 wird von der Tonart C-Dur ausgegangen. Deren Dominante ist G7, und deswegen werden die symmetrischen Skalen hier vom Ton G aus betrachtet. Durch verschiedene Kennzeichnungen der Töne in der Tastatur-Darstellung wird das Beziehungsgeflecht zwischen GTHT, HTGT, Ganztonleiter und verschiedenen Akkorden als Stellvertreter der Dominantfunktion sichtbar – mehr dazu weiter unten.

Beachten Sie z. B., dass (unter Berücksichtigung der im Abschnitt “HTGT GTHT” erläuterten Zusammenhänge) der Grundton der eigentlichen Tonart C in den symmetrischen Skalen nun gar nicht vorkommt. Für die Verständigung ist also wichtig zu wissen, dass ein Ausgangston einer symmetrischen Skala nicht mit dem Grundton einer Tonart zu verwechseln ist, sondern primär in einer der hier gezeigten Formen mit deren Dominantfunktion verbunden ist.


Abb. 1

Ganztonleiter

Als eine Konstruktion aus völlig gleichberechtigten Tonschritten beinhaltet die Ganztonleiter auf dem Grundton der Dominante überwiegend Töne, die auch in deren diatonischer Skala (mixolydisch) enthalten sind. Besonders wichtig sind dabei die “Charaktertöne” der Dominante, die große Terz und die kleine Septime. Im Beispiel (Abb. 1) sind das die Töne B(H) und F von G7. Deutet man nun den Tritonus (Db) zum Grundton der Ganztonleiter um, dann tauschen die Töne B (bzw. dann Cb) und F lediglich ihre Rollen als Terz bzw. Septime und bilden mit dem Grundton Db ebenfalls wieder ein Dominante (Db7) – in C-Dur das so genannte “Tritonus-Substitut” von G7. Den Ton Db hat die Ganztonleiter auch mit der HTGT gemein. Einziger Ton, der nur in der Ganztonleiter vertreten ist, ist die übermäßige Quinte, in der Abb. 1 enharmonisch verwechselt als kleine Sexte Eb dargestellt. Im MIDI-File mg_11_01.mid sind drei Varianten einer Verwendung der “reinen” Ganztonleiter in relativ bekannten Arrangements nachgestaltet.

HTGT GTHT Die Ganzton-Halbtonleiter GTHT ist im Grunde nur ein Modus der HTGT, also die gleiche Skala, nur von einem anderen Grundton aus betrachtet. Beide zu unterscheiden ist vergleichbar einer Unterscheidung zwischen einem Dur-7-Akkord mit verminderter None (Dur7/b9) und einem Null-7-Akkord (Schichtung aus kleinen Terzen), deren Töne die gleichen sind wie die des Dur-7/b9-Akkords, nur ohne dessen Grundton. Ein Beispiel dafür wäre der G7/b9, der ohne Grundton auch D07 (oder F07, Ab07, B07) heißen könnte.

In Abb. 1 werden diese Verhältnisse durch Kennzeichnungen der Ausgangstöne für der GTHT innerhalb der HTGT deutlich gemacht. Aus dieser Sicht kann man beide Skalen als nur eine einzige betrachten. Es ist Ihrem Geschmack überlassen, ob Sie lieber die GTHT von den Tönen der Null-7-Akkorde aus oder lieber die HTGT vom Grundton der Dominante aus als Orientierung bevorzugen. Wichtig ist vor allem, dass Sie diese in jedem Falle als Tonmaterial der Dominanten von C-Dur (bzw. Es-Dur, Ges-Dur und A-Dur) erkennen. Aber damit werden Sie noch oft genug konfrontiert, so dass in Zukunft ausreichend Gelegenheit besteht, diese Systematik zu verinnerlichen.

Skalen-Lick-Mixturen (Alterierte Skalen)

In der Jazz-Theorie gibt es “Alterierte Skalen”, die ursächlich nur diverse Kombinationen aus den hier genannten symmetrischen Skalen darstellen. Die wichtigste davon besteht, vom Grundton aus aufwärts betrachtet, bis zum Tritonus aus der HTGT und ab dem Tritonus aus Ganztonschritten (siehe Abb. 2). Andere “alterierte” Skalen mit Zusätzen in der Bezeichnung können davon punktuell abweichen. Für eine Beschränkung auf das Wesentliche und für mehr kreative Freiheit scheint es sinnvoller, auf die Schematisierung solcher Skalen zu verzichten und nach dem hier genannten Prinzip beliebige Mixturen zu bilden. Letztlich läuft das auf das gleiche hinaus.

Im Sequenzer- bzw. MIDI-File mg_11_02.mid können Sie einige Beispiele hören, in denen der Reihe nach die “reine” HTGT und dann verschiedene Kombinationen aus Ganztonleiter und HTGT verwendet werden – diesmal alle in C-Dur, also mit dem Ausgangston G für die symmetrischen Skalen. Dabei wird auch angedeutet, wie solche Tonverbindungen entweder um kleine Terzen versetzt werden können oder wie sie mit Substituten in der Begleitung zusammenwirken. Das letzte Beispiel fällt dann ein wenig aus dem Rahmen. Es ist (nach C-Dur transponiert) dem Schluss eines bekannten Pop-Arrangements nachempfunden, um mal zu zeigen, dass solche Muster auch außerhalb des Jazz funktionieren können.


Abb. 2

Weitere Quellen

Neben den im Text erwähnten MIDI-Files finden Sie auch Darstellungen aus früheren Beiträgen, sofern auf diese im Text verwiesen wird: [1] – MG_01_03.PDF (Quintenzirkel und 3 Systeme aus Tonarten).

 

© 2001 by Wolfgang Fiedler